Ungeduldig
blicke ich auf das Display meines Smartphones, um die Uhrzeit zu überprüfen und
tippe mit meinem rechten Zeigefinger auf die kleine grüne Sprechblase. Keine
neue Nachricht von Emily, in der sie ihr Verspätung erklären würde. Das ist
zwar nichts ungewöhnliches, weil meine Freundin praktisch täglich zu spät dran
ist, aber sie hatte mir versichert, heute mit ihrer Pünktlichkeit rechnen zu
können. Jeden Morgen holt sie mich mit dem uralten Chevrolet ihrer Mum ab. Er
ist metallicblau, aber der Lack hat schon so viele Kratzer abbekommen, dass
immer mehr von der Farbe abblättert. Die Sitze sind von verschütteten
Getränken, Essensflecken und der Kotze diverser Bekannten verfärbt und löchrig.
Das Auto ist eins der schäbigsten, das ich kenne und Emily jammert unablässig
über ihn, aber es ist offensichtlich, dass sie das Gefährt abgöttisch liebt.
Sie meint, nur darin kann sie so fahren, wie sie es am liebsten tut, nämlich
mit der Sonnenbrille auf der Nase, nur einem Hand am Lenker und mit der anderen
entweder im CD-Fach oder in der Chipstüte wühlend. In jedem anderen Auto hat
sie eine Heidenangst, einen Unfall zu bauen, nur in der alten Karre nicht - den
Wert weiter zu mindern ist kaum möglich.
Da
die erste Schulstunde um acht beginnt und sie zum Finden eines Parkplatzes
immer zehn Minuten braucht, sollte sie mich eigentlich um Viertel nach sieben
abholen, damit wir uns beim McDrive unsere erste tägliche Koffeindröhnung und
je einen Zimtdonut holen können. Aufgrund des Zeitmangels müssen wir uns aber
mindestens dreimal wöchentlich der Frage stellen, ob wir auf den Donut und
Kaffee verzichten, zu spät in der Schule ankommen oder aber versuchen, durch
ein Höllentempo die Zeit wieder reinzukriegen und trotz Abstecher beim McDrive
nicht mit allzu grosser Verspätung anzukommen. Auf die letzte Vatiante
verzichten wir, seitdem Emily einmal eine Kurve so scharf genommen hat, dass
ich die Kaffeebecher auf meinem Schoss ausgeleert habe und mich so stark
verbrüht habe, dass mein Schmerzensschrei noch fünf Blocks weiter zu hören war.
Ausserdem hatte ich an dem Tag meine neue weisse Jeans von Diesel an, die ich
im Ausverkauf ergattert hatte und danach selbstverständlich hinüber war.
Wieder
blicke ich auf mein Handy. Sieben Uhr zweiundzwanzig. Ich schnaube entnervt auf
- ausgerechnet heute war Emily unzuverlässig wie eh und je. Den DriveIn und die
ruhige Hinfahrt konnten wir somit knicken, dabei war ich schon so aufgeregt
genug. Der Verzicht auf Koffein war vielleicht nicht das Schlechteste, aber
meinen Zimtdonut hätte ich dringend gebraucht. Gerade als ich anfange, Emily im
Geiste zu verfluchen, sehe ich ihre Schrottkarre in meine Strasse einbiegen.
Sie hat ein Höllentempo drauf und ihre Reifen kommen quietschend zum Stehen,
als sie vor meiner Einfahrt abbremst, den Motor aber laufen lässt. Noch bevor
der Wagen ganz still steht, stürme ich darauf zu, reisse die Beifahrertür auf
und lasse mich auf den Sitz plumpsen. "Wo hast du nur gesteckt? Du bist
zehn Minuten zu spät dran!" fahre ich Emily. Sie drückt kräftig aufs Gaspedal
und lenkt den Wagen in die Hauptstrasse. "Tut mir wahnsinnig leid, ich hab
einfach meinen Wecker nicht gehört. Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte
und habe das ganze Morgenprogramm ausgelassen, ich sehe furchtbar aus",
sagt sie kleinlaut. Sie blickt schuldbewusst in die Wäsche und versucht,
entschuldigend zu lächeln. Beim Anblick ihrer ungekämmten Haare und der
Tatsache, dass sie kein Make-Up aufgelegt hat, glaube ich ihr das sogar.
Normalerweise braucht sie morgens eine knappe Viertelstunde im Bad, um sich in
das umwerfende Wesen zu verwandeln, das sie den restlichen Tag verkörpert.
Dabei kämmt sie sich eigentlich nur ausgiebig, damit ihr voluminöses Haar brav
so liegt, wie es soll, und benutzt etwas Wimperntusche und Lippenpflege oder
Lipgloss. Meine Freundin ist wohl eines der schönsten Mädchen, das ich kenne,
aber sie tut trotzdem gerne so, als wäre ein fünfstündiges Schönheitsprogramm
nötig, um sie in ein halbwegs vorzeigbares Etwas zu verwandeln. "Ach, halt
doch den Schnabel, du siehst so toll aus wie immer", entgegne ich und
werfe meine Tasche auf den Rücksitz. Emily sieht auch jetzt umwerfend aus. Sie
hat einen klaren, ebenen Teint, wegen der Aufregung etwas rosigere Bäckchen als
sonst und füllige, dunkle Lippen, um die ich sie so beneide. Ihre karamellblonden
Haare fallen ihr für gewöhnlich in sanften Wellen bis unter die
Schulterblätter. Wenn sie so lacht, wie sie es eigentlich immer tut, bilden
sich in ihren Wangen zwei Grübchen und etwas keckes, schelmisches in ihre
dunkelblauen Augen blitzt auf. Ihr morgendliches Schönheitsprogramm ist mehr
ein Ritual, bei dem sie langsam wach wird, als eine Notwendigkeit. Im Gegensatz
zu ihr besitze ich hingegen wirklich eine morgendliche Routine, bei der ich von
der halben Stunde, die ich vor der Spiegel stehe, auch Gebrauch mache. Während
Emily morgens bloss etwas verschlafen aussieht und ein paar Bürstenstriche
braucht, ist bei mir mehr nötig. Eine gute Pflegecreme, Haarspray und auch
sonst ein paar Utensilien sind nötig, um mich herzurichten. Es ist nicht so,
als wäre ich nicht hübsch, ich bin bloss nicht so etwas besonderes wie Emily.
An unserer Schule gibt es mittelgrosse Brünetten mit Himmelfahrtsnase und
haselnussbraunen Augen wie Sand am Meer, während Emily nicht zuletzt wegen
ihrer Grösse heraussticht. Es ist wahre Ironie, dass ich von uns beiden
diejenige bin, die sich so sehr für das Theater und die grosse Bühne
interessiert, wo sie durch ihr auffälliges Äusseres dazu prädestiniert ist.
Früher habe ich immer einen Stich der Eifersucht verspürt, wenn ich mich mit
ihr verglichen habe, aber mit den Jahren ist mein Selbstbewusstsein zumindest so weit gewachsen, dass ich
mich mit mir selbst abgefunden habe. Trotzdem verschlinge ich alle Artikel in
Magazinen, die Versprechen, 'das Beste aus meinem Typ' zu machen. Dafür zeige
Emily eine gerade ungesunde Faszination für alle Horoskope, die sie darin
findet.
Gerade fischt sie eine neue Ausgabe der TeenToday aus ihrer
Umhängetasche und reicht sie mir, ohne das Tempo des Wagens zu drosseln.
Mittlerweile sind wir schon auf dem Highway und rasen nur so dahin.
"Ehrlich, tut mir Leid. Ich weiss doch, was das heute für ein wichtiger
Tag für dich ist. Aber guck nur mal auf die Astrologieseite - ich hab die
Zeitschrift gestern besorgt, die ist noch brandneu. Und für die Waage steht nur
Gutes drin, glatte vier Sterne für die Karriere! Wenn das mal nichts
heisst!"
Ich greife mir die Ausgabe, blättere bis zur Seite mit den Horoskopen
gleich nach der Ratgeberkolumne und überfliege mein Horoskop mit mässigem
Enthousiasmus. Nach deren Vorhersage ist das wirklich meine Woche. "Mein
Glückstag ist sogar der Zwölfte, das ist heute. Wollen wir nur mal hoffen, dass
es ausser mir keine Waage an der Schule gibt, dann kriege ich die Rolle auf
jeden Fall."
Emily zieht eine Schnute vor meinem Mangel an Begeisterung.
"Vielleicht bist du nicht die einzige Waage, die vorspricht, aber dafür
die talentierteste, begabteste, schillerndste -"
"Und die unpünktlichste, neurotischste, grössenwahnsinnigste..."
unterbreche ich sie düster und verschränke meine Knie auf dem Sitz vor der
Brust.
"Ich sorge schon dafür, dass wir rechtzeitig da sind, und wenn ich
zehn Ampeln bei Rot nehmen muss", bemerkt sie mit entschlossenem Blick.
"Lehn du dich nur zurück, bündle deine Kräfte und hör mit der elenden
Schwarzmalerei auf. Wenn du die Rolle nicht kriegst, will ich nicht mehr Emily
McCormick heissen. Du bist perfekt dafür."
Ich blicke auf und atme tief durch, um meine angespannten Nerven etwas zu
beruhigen. Die Rolle beim Schultheater, für die ich heute vorsprechen werde,
ist mir wirklich wie auf den Leib geschneidert, das muss ich zugeben. Ein
junges Mädchen, welches sich aufmacht in die grosse Stadt, um den grossen
Erfolg am Broadway zu finden. Mit einer Menge Träumen im Gepäck und den Kopf in
den Wolken, sodass sie sich im Stück einigen Desillusionen hingeben muss, doch
trotzdem mit einem befriedigenden Ende. Also so ziemlich meine eigene
Situation, weil ich von der Schauspielerei träume, seitdem ich mit meinem Onkel
das Phantom der Oper sehen durfte. Natürlich bin ich damit längst nicht die
Einzige, an meiner Schule gibt es mindestens soviele Mädchen, die ins
Filmgeschäft wollen wie Brünette. Allerdings wollen die meisten vor allem Ruhm
und den Bekanntheitsgrad, während mir das eigentlich schnurz ist. Ich liebe es
einfach nur, in eine andere Haut zu schlüpfen, eine Rolle zu spielen, eine
Geschichte zu erzählen. Auf der Bühne zu stehen ist mein Nonplusultra und mit
der Zeit habe ich tatsächlich sowas wie Erfahrung gesammelt. Emily spricht von
meinem Talent, aber ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.
"Willst du deinen Text heute nochmal durchgehen? Ein paar Minuten
bleiben uns noch. Ich halte auch die Klappe, wenn du willst."
Ich vergrabe meine Fingernägel in meine Waden, so stark, dass die Sehnen in
meinen Händen weiss hervortreten, und bleibe stumm. Kurz vor dem Vorsprechen
habe ich immer einen Knoten im Magen und kann den Text nicht noch einmal
wiederholen, ohne meine Nervosität noch mehr ansteigen zu lassen. Man muss mir
meine Anspannung wohl ansehen, denn Emily plappert schnell weiter, um mich
etwas abzulenken.
"Aber mal ganz ehrlich, Vorsprechen morgens um acht... das sind schon
beknackte Zeiten. Wieso machen sie das nicht nach der Schule? So verpasst ihr
ja Unterricht und all solchen Kram." Emily setzt sich ihre riesige
Sonnenbrille mit den verspiegelten Pilotengläsern, die sie aus dem
Handschuhfach gekramt hat, auf die Nase.
"Das ist gewollt. Man muss den verpassten Stoff nacharbeiten, deshalb
werden nur Leute da sein, die wirklich Interesse haben und nicht nur zugucken
und eine Show sehen wollen. Ausserdem soll es eine bestimmte Geheimhaltung
garantieren, damit es nachher für die anderen Schüler eine Überraschung wird,
wer welche Rolle kriegt oder so", antworte ich und löse mich aus meiner verkrampften
Sitzhaltung, im Versuch, meine Glieder etwas zu lockern. Ausserdem erreichen
wir dank Emilys gesteigertem Fahrtempo bald schon das Schulgelände und haben
sogar noch fünf Minuten Zeit übrig. Ehrlich gesagt verstehe ich das mit dem
morgendlichen Vorsprechen auch nicht, aber es macht für mich keinen erheblichen
Unterschied. Nervös bin ich ohnehin, bevor ich auf der Bühne stehe, ganz egal,
wer und wieviele dabei zusehen werden. Bis ich loslege, dann vergesse ich die
Augenpaare um mich herum, die mich mustern und bewerten.
"Blödsinn, echt... die fordern einen ja regelrecht dazu auf, zu spät
zu erscheinen. Wer ist schon genau um acht da, jetzt mal ehrlich?",
versucht sich Emily an einen Scherz, der mir nur ein mattes Grinsen entlockt.
Wir sind wirklich notorische Zuspätkommer.
Sie lenkt den Wagen auf den Parkplatz vor der Schule und sichtet ganz in
der Nähe vom Eingang noch eine freie Stelle. "Kein Unfall trotz meines
mörderischen Tempos, ein Platz gleich vor dem Gebäude, ein gigantisches
Horoskop... das sind alles Omen, Debs! Es
kann gar nichts mehr schieflaufen. Geh da rein und zeig
denen, wo der Hammer hängt!" begeistert sie sich, stellt den Motor ab und
klopft mir auf den Rücken, wie Footballspieler das vor einem Spiel tun. Ich
greife mir meine Tasche vom Rücksitz, steige aus dem Auto und rufe ihr noch ein
'Bis nachher' zu, bevor ich zum Eingang und in das Gebäude hechte.
deine Kurzgeschichten sind toll. witzig und frech. mach weiter so :-)
AntwortenLöschen