Freitag, 28. Februar 2014

Geschreibsel/Unnütz/Sinnfrei. Irgendwas.

Ungeduldig blicke ich auf das Display meines Smartphones, um die Uhrzeit zu überprüfen und tippe mit meinem rechten Zeigefinger auf die kleine grüne Sprechblase. Keine neue Nachricht von Emily, in der sie ihr Verspätung erklären würde. Das ist zwar nichts ungewöhnliches, weil meine Freundin praktisch täglich zu spät dran ist, aber sie hatte mir versichert, heute mit ihrer Pünktlichkeit rechnen zu können. Jeden Morgen holt sie mich mit dem uralten Chevrolet ihrer Mum ab. Er ist metallicblau, aber der Lack hat schon so viele Kratzer abbekommen, dass immer mehr von der Farbe abblättert. Die Sitze sind von verschütteten Getränken, Essensflecken und der Kotze diverser Bekannten verfärbt und löchrig. Das Auto ist eins der schäbigsten, das ich kenne und Emily jammert unablässig über ihn, aber es ist offensichtlich, dass sie das Gefährt abgöttisch liebt. Sie meint, nur darin kann sie so fahren, wie sie es am liebsten tut, nämlich mit der Sonnenbrille auf der Nase, nur einem Hand am Lenker und mit der anderen entweder im CD-Fach oder in der Chipstüte wühlend. In jedem anderen Auto hat sie eine Heidenangst, einen Unfall zu bauen, nur in der alten Karre nicht - den Wert weiter zu mindern ist kaum möglich.
Da die erste Schulstunde um acht beginnt und sie zum Finden eines Parkplatzes immer zehn Minuten braucht, sollte sie mich eigentlich um Viertel nach sieben abholen, damit wir uns beim McDrive unsere erste tägliche Koffeindröhnung und je einen Zimtdonut holen können. Aufgrund des Zeitmangels müssen wir uns aber mindestens dreimal wöchentlich der Frage stellen, ob wir auf den Donut und Kaffee verzichten, zu spät in der Schule ankommen oder aber versuchen, durch ein Höllentempo die Zeit wieder reinzukriegen und trotz Abstecher beim McDrive nicht mit allzu grosser Verspätung anzukommen. Auf die letzte Vatiante verzichten wir, seitdem Emily einmal eine Kurve so scharf genommen hat, dass ich die Kaffeebecher auf meinem Schoss ausgeleert habe und mich so stark verbrüht habe, dass mein Schmerzensschrei noch fünf Blocks weiter zu hören war. Ausserdem hatte ich an dem Tag meine neue weisse Jeans von Diesel an, die ich im Ausverkauf ergattert hatte und danach selbstverständlich hinüber war.
Wieder blicke ich auf mein Handy. Sieben Uhr zweiundzwanzig. Ich schnaube entnervt auf - ausgerechnet heute war Emily unzuverlässig wie eh und je. Den DriveIn und die ruhige Hinfahrt konnten wir somit knicken, dabei war ich schon so aufgeregt genug. Der Verzicht auf Koffein war vielleicht nicht das Schlechteste, aber meinen Zimtdonut hätte ich dringend gebraucht. Gerade als ich anfange, Emily im Geiste zu verfluchen, sehe ich ihre Schrottkarre in meine Strasse einbiegen. Sie hat ein Höllentempo drauf und ihre Reifen kommen quietschend zum Stehen, als sie vor meiner Einfahrt abbremst, den Motor aber laufen lässt. Noch bevor der Wagen ganz still steht, stürme ich darauf zu, reisse die Beifahrertür auf und lasse mich auf den Sitz plumpsen. "Wo hast du nur gesteckt? Du bist zehn Minuten zu spät dran!" fahre ich Emily. Sie drückt kräftig aufs Gaspedal und lenkt den Wagen in die Hauptstrasse. "Tut mir wahnsinnig leid, ich hab einfach meinen Wecker nicht gehört. Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte und habe das ganze Morgenprogramm ausgelassen, ich sehe furchtbar aus", sagt sie kleinlaut. Sie blickt schuldbewusst in die Wäsche und versucht, entschuldigend zu lächeln. Beim Anblick ihrer ungekämmten Haare und der Tatsache, dass sie kein Make-Up aufgelegt hat, glaube ich ihr das sogar. Normalerweise braucht sie morgens eine knappe Viertelstunde im Bad, um sich in das umwerfende Wesen zu verwandeln, das sie den restlichen Tag verkörpert. Dabei kämmt sie sich eigentlich nur ausgiebig, damit ihr voluminöses Haar brav so liegt, wie es soll, und benutzt etwas Wimperntusche und Lippenpflege oder Lipgloss. Meine Freundin ist wohl eines der schönsten Mädchen, das ich kenne, aber sie tut trotzdem gerne so, als wäre ein fünfstündiges Schönheitsprogramm nötig, um sie in ein halbwegs vorzeigbares Etwas zu verwandeln. "Ach, halt doch den Schnabel, du siehst so toll aus wie immer", entgegne ich und werfe meine Tasche auf den Rücksitz. Emily sieht auch jetzt umwerfend aus. Sie hat einen klaren, ebenen Teint, wegen der Aufregung etwas rosigere Bäckchen als sonst und füllige, dunkle Lippen, um die ich sie so beneide. Ihre karamellblonden Haare fallen ihr für gewöhnlich in sanften Wellen bis unter die Schulterblätter. Wenn sie so lacht, wie sie es eigentlich immer tut, bilden sich in ihren Wangen zwei Grübchen und etwas keckes, schelmisches in ihre dunkelblauen Augen blitzt auf. Ihr morgendliches Schönheitsprogramm ist mehr ein Ritual, bei dem sie langsam wach wird, als eine Notwendigkeit. Im Gegensatz zu ihr besitze ich hingegen wirklich eine morgendliche Routine, bei der ich von der halben Stunde, die ich vor der Spiegel stehe, auch Gebrauch mache. Während Emily morgens bloss etwas verschlafen aussieht und ein paar Bürstenstriche braucht, ist bei mir mehr nötig. Eine gute Pflegecreme, Haarspray und auch sonst ein paar Utensilien sind nötig, um mich herzurichten. Es ist nicht so, als wäre ich nicht hübsch, ich bin bloss nicht so etwas besonderes wie Emily. An unserer Schule gibt es mittelgrosse Brünetten mit Himmelfahrtsnase und haselnussbraunen Augen wie Sand am Meer, während Emily nicht zuletzt wegen ihrer Grösse heraussticht. Es ist wahre Ironie, dass ich von uns beiden diejenige bin, die sich so sehr für das Theater und die grosse Bühne interessiert, wo sie durch ihr auffälliges Äusseres dazu prädestiniert ist. Früher habe ich immer einen Stich der Eifersucht verspürt, wenn ich mich mit ihr verglichen habe, aber mit den Jahren ist mein Selbstbewusstsein zumindest so weit gewachsen, dass ich mich mit mir selbst abgefunden habe. Trotzdem verschlinge ich alle Artikel in Magazinen, die Versprechen, 'das Beste aus meinem Typ' zu machen. Dafür zeige Emily eine gerade ungesunde Faszination für alle Horoskope, die sie darin findet.
Gerade fischt sie eine neue Ausgabe der TeenToday aus ihrer Umhängetasche und reicht sie mir, ohne das Tempo des Wagens zu drosseln. Mittlerweile sind wir schon auf dem Highway und rasen nur so dahin. "Ehrlich, tut mir Leid. Ich weiss doch, was das heute für ein wichtiger Tag für dich ist. Aber guck nur mal auf die Astrologieseite - ich hab die Zeitschrift gestern besorgt, die ist noch brandneu. Und für die Waage steht nur Gutes drin, glatte vier Sterne für die Karriere! Wenn das mal nichts heisst!"
Ich greife mir die Ausgabe, blättere bis zur Seite mit den Horoskopen gleich nach der Ratgeberkolumne und überfliege mein Horoskop mit mässigem Enthousiasmus. Nach deren Vorhersage ist das wirklich meine Woche. "Mein Glückstag ist sogar der Zwölfte, das ist heute. Wollen wir nur mal hoffen, dass es ausser mir keine Waage an der Schule gibt, dann kriege ich die Rolle auf jeden Fall."
Emily zieht eine Schnute vor meinem Mangel an Begeisterung. "Vielleicht bist du nicht die einzige Waage, die vorspricht, aber dafür die talentierteste, begabteste, schillerndste -"
"Und die unpünktlichste, neurotischste, grössenwahnsinnigste..." unterbreche ich sie düster und verschränke meine Knie auf dem Sitz vor der Brust.
"Ich sorge schon dafür, dass wir rechtzeitig da sind, und wenn ich zehn Ampeln bei Rot nehmen muss", bemerkt sie mit entschlossenem Blick. "Lehn du dich nur zurück, bündle deine Kräfte und hör mit der elenden Schwarzmalerei auf. Wenn du die Rolle nicht kriegst, will ich nicht mehr Emily McCormick heissen. Du bist perfekt dafür."
Ich blicke auf und atme tief durch, um meine angespannten Nerven etwas zu beruhigen. Die Rolle beim Schultheater, für die ich heute vorsprechen werde, ist mir wirklich wie auf den Leib geschneidert, das muss ich zugeben. Ein junges Mädchen, welches sich aufmacht in die grosse Stadt, um den grossen Erfolg am Broadway zu finden. Mit einer Menge Träumen im Gepäck und den Kopf in den Wolken, sodass sie sich im Stück einigen Desillusionen hingeben muss, doch trotzdem mit einem befriedigenden Ende. Also so ziemlich meine eigene Situation, weil ich von der Schauspielerei träume, seitdem ich mit meinem Onkel das Phantom der Oper sehen durfte. Natürlich bin ich damit längst nicht die Einzige, an meiner Schule gibt es mindestens soviele Mädchen, die ins Filmgeschäft wollen wie Brünette. Allerdings wollen die meisten vor allem Ruhm und den Bekanntheitsgrad, während mir das eigentlich schnurz ist. Ich liebe es einfach nur, in eine andere Haut zu schlüpfen, eine Rolle zu spielen, eine Geschichte zu erzählen. Auf der Bühne zu stehen ist mein Nonplusultra und mit der Zeit habe ich tatsächlich sowas wie Erfahrung gesammelt. Emily spricht von meinem Talent, aber ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.
"Willst du deinen Text heute nochmal durchgehen? Ein paar Minuten bleiben uns noch. Ich halte auch die Klappe, wenn du willst."
Ich vergrabe meine Fingernägel in meine Waden, so stark, dass die Sehnen in meinen Händen weiss hervortreten, und bleibe stumm. Kurz vor dem Vorsprechen habe ich immer einen Knoten im Magen und kann den Text nicht noch einmal wiederholen, ohne meine Nervosität noch mehr ansteigen zu lassen. Man muss mir meine Anspannung wohl ansehen, denn Emily plappert schnell weiter, um mich etwas abzulenken.
"Aber mal ganz ehrlich, Vorsprechen morgens um acht... das sind schon beknackte Zeiten. Wieso machen sie das nicht nach der Schule? So verpasst ihr ja Unterricht und all solchen Kram." Emily setzt sich ihre riesige Sonnenbrille mit den verspiegelten Pilotengläsern, die sie aus dem Handschuhfach gekramt hat, auf die Nase.
"Das ist gewollt. Man muss den verpassten Stoff nacharbeiten, deshalb werden nur Leute da sein, die wirklich Interesse haben und nicht nur zugucken und eine Show sehen wollen. Ausserdem soll es eine bestimmte Geheimhaltung garantieren, damit es nachher für die anderen Schüler eine Überraschung wird, wer welche Rolle kriegt oder so", antworte ich und löse mich aus meiner verkrampften Sitzhaltung, im Versuch, meine Glieder etwas zu lockern. Ausserdem erreichen wir dank Emilys gesteigertem Fahrtempo bald schon das Schulgelände und haben sogar noch fünf Minuten Zeit übrig. Ehrlich gesagt verstehe ich das mit dem morgendlichen Vorsprechen auch nicht, aber es macht für mich keinen erheblichen Unterschied. Nervös bin ich ohnehin, bevor ich auf der Bühne stehe, ganz egal, wer und wieviele dabei zusehen werden. Bis ich loslege, dann vergesse ich die Augenpaare um mich herum, die mich mustern und bewerten.
"Blödsinn, echt... die fordern einen ja regelrecht dazu auf, zu spät zu erscheinen. Wer ist schon genau um acht da, jetzt mal ehrlich?", versucht sich Emily an einen Scherz, der mir nur ein mattes Grinsen entlockt. Wir sind wirklich notorische Zuspätkommer.
Sie lenkt den Wagen auf den Parkplatz vor der Schule und sichtet ganz in der Nähe vom Eingang noch eine freie Stelle. "Kein Unfall trotz meines mörderischen Tempos, ein Platz gleich vor dem Gebäude, ein gigantisches Horoskop... das sind alles Omen, Debs! Es  kann gar nichts mehr schieflaufen. Geh da rein und zeig denen, wo der Hammer hängt!" begeistert sie sich, stellt den Motor ab und klopft mir auf den Rücken, wie Footballspieler das vor einem Spiel tun. Ich greife mir meine Tasche vom Rücksitz, steige aus dem Auto und rufe ihr noch ein 'Bis nachher' zu, bevor ich zum Eingang und in das Gebäude hechte.



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