Freitag, 28. Februar 2014

Geschreibsel/Unnütz/Sinnfrei. Irgendwas.

Ungeduldig blicke ich auf das Display meines Smartphones, um die Uhrzeit zu überprüfen und tippe mit meinem rechten Zeigefinger auf die kleine grüne Sprechblase. Keine neue Nachricht von Emily, in der sie ihr Verspätung erklären würde. Das ist zwar nichts ungewöhnliches, weil meine Freundin praktisch täglich zu spät dran ist, aber sie hatte mir versichert, heute mit ihrer Pünktlichkeit rechnen zu können. Jeden Morgen holt sie mich mit dem uralten Chevrolet ihrer Mum ab. Er ist metallicblau, aber der Lack hat schon so viele Kratzer abbekommen, dass immer mehr von der Farbe abblättert. Die Sitze sind von verschütteten Getränken, Essensflecken und der Kotze diverser Bekannten verfärbt und löchrig. Das Auto ist eins der schäbigsten, das ich kenne und Emily jammert unablässig über ihn, aber es ist offensichtlich, dass sie das Gefährt abgöttisch liebt. Sie meint, nur darin kann sie so fahren, wie sie es am liebsten tut, nämlich mit der Sonnenbrille auf der Nase, nur einem Hand am Lenker und mit der anderen entweder im CD-Fach oder in der Chipstüte wühlend. In jedem anderen Auto hat sie eine Heidenangst, einen Unfall zu bauen, nur in der alten Karre nicht - den Wert weiter zu mindern ist kaum möglich.
Da die erste Schulstunde um acht beginnt und sie zum Finden eines Parkplatzes immer zehn Minuten braucht, sollte sie mich eigentlich um Viertel nach sieben abholen, damit wir uns beim McDrive unsere erste tägliche Koffeindröhnung und je einen Zimtdonut holen können. Aufgrund des Zeitmangels müssen wir uns aber mindestens dreimal wöchentlich der Frage stellen, ob wir auf den Donut und Kaffee verzichten, zu spät in der Schule ankommen oder aber versuchen, durch ein Höllentempo die Zeit wieder reinzukriegen und trotz Abstecher beim McDrive nicht mit allzu grosser Verspätung anzukommen. Auf die letzte Vatiante verzichten wir, seitdem Emily einmal eine Kurve so scharf genommen hat, dass ich die Kaffeebecher auf meinem Schoss ausgeleert habe und mich so stark verbrüht habe, dass mein Schmerzensschrei noch fünf Blocks weiter zu hören war. Ausserdem hatte ich an dem Tag meine neue weisse Jeans von Diesel an, die ich im Ausverkauf ergattert hatte und danach selbstverständlich hinüber war.
Wieder blicke ich auf mein Handy. Sieben Uhr zweiundzwanzig. Ich schnaube entnervt auf - ausgerechnet heute war Emily unzuverlässig wie eh und je. Den DriveIn und die ruhige Hinfahrt konnten wir somit knicken, dabei war ich schon so aufgeregt genug. Der Verzicht auf Koffein war vielleicht nicht das Schlechteste, aber meinen Zimtdonut hätte ich dringend gebraucht. Gerade als ich anfange, Emily im Geiste zu verfluchen, sehe ich ihre Schrottkarre in meine Strasse einbiegen. Sie hat ein Höllentempo drauf und ihre Reifen kommen quietschend zum Stehen, als sie vor meiner Einfahrt abbremst, den Motor aber laufen lässt. Noch bevor der Wagen ganz still steht, stürme ich darauf zu, reisse die Beifahrertür auf und lasse mich auf den Sitz plumpsen. "Wo hast du nur gesteckt? Du bist zehn Minuten zu spät dran!" fahre ich Emily. Sie drückt kräftig aufs Gaspedal und lenkt den Wagen in die Hauptstrasse. "Tut mir wahnsinnig leid, ich hab einfach meinen Wecker nicht gehört. Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte und habe das ganze Morgenprogramm ausgelassen, ich sehe furchtbar aus", sagt sie kleinlaut. Sie blickt schuldbewusst in die Wäsche und versucht, entschuldigend zu lächeln. Beim Anblick ihrer ungekämmten Haare und der Tatsache, dass sie kein Make-Up aufgelegt hat, glaube ich ihr das sogar. Normalerweise braucht sie morgens eine knappe Viertelstunde im Bad, um sich in das umwerfende Wesen zu verwandeln, das sie den restlichen Tag verkörpert. Dabei kämmt sie sich eigentlich nur ausgiebig, damit ihr voluminöses Haar brav so liegt, wie es soll, und benutzt etwas Wimperntusche und Lippenpflege oder Lipgloss. Meine Freundin ist wohl eines der schönsten Mädchen, das ich kenne, aber sie tut trotzdem gerne so, als wäre ein fünfstündiges Schönheitsprogramm nötig, um sie in ein halbwegs vorzeigbares Etwas zu verwandeln. "Ach, halt doch den Schnabel, du siehst so toll aus wie immer", entgegne ich und werfe meine Tasche auf den Rücksitz. Emily sieht auch jetzt umwerfend aus. Sie hat einen klaren, ebenen Teint, wegen der Aufregung etwas rosigere Bäckchen als sonst und füllige, dunkle Lippen, um die ich sie so beneide. Ihre karamellblonden Haare fallen ihr für gewöhnlich in sanften Wellen bis unter die Schulterblätter. Wenn sie so lacht, wie sie es eigentlich immer tut, bilden sich in ihren Wangen zwei Grübchen und etwas keckes, schelmisches in ihre dunkelblauen Augen blitzt auf. Ihr morgendliches Schönheitsprogramm ist mehr ein Ritual, bei dem sie langsam wach wird, als eine Notwendigkeit. Im Gegensatz zu ihr besitze ich hingegen wirklich eine morgendliche Routine, bei der ich von der halben Stunde, die ich vor der Spiegel stehe, auch Gebrauch mache. Während Emily morgens bloss etwas verschlafen aussieht und ein paar Bürstenstriche braucht, ist bei mir mehr nötig. Eine gute Pflegecreme, Haarspray und auch sonst ein paar Utensilien sind nötig, um mich herzurichten. Es ist nicht so, als wäre ich nicht hübsch, ich bin bloss nicht so etwas besonderes wie Emily. An unserer Schule gibt es mittelgrosse Brünetten mit Himmelfahrtsnase und haselnussbraunen Augen wie Sand am Meer, während Emily nicht zuletzt wegen ihrer Grösse heraussticht. Es ist wahre Ironie, dass ich von uns beiden diejenige bin, die sich so sehr für das Theater und die grosse Bühne interessiert, wo sie durch ihr auffälliges Äusseres dazu prädestiniert ist. Früher habe ich immer einen Stich der Eifersucht verspürt, wenn ich mich mit ihr verglichen habe, aber mit den Jahren ist mein Selbstbewusstsein zumindest so weit gewachsen, dass ich mich mit mir selbst abgefunden habe. Trotzdem verschlinge ich alle Artikel in Magazinen, die Versprechen, 'das Beste aus meinem Typ' zu machen. Dafür zeige Emily eine gerade ungesunde Faszination für alle Horoskope, die sie darin findet.
Gerade fischt sie eine neue Ausgabe der TeenToday aus ihrer Umhängetasche und reicht sie mir, ohne das Tempo des Wagens zu drosseln. Mittlerweile sind wir schon auf dem Highway und rasen nur so dahin. "Ehrlich, tut mir Leid. Ich weiss doch, was das heute für ein wichtiger Tag für dich ist. Aber guck nur mal auf die Astrologieseite - ich hab die Zeitschrift gestern besorgt, die ist noch brandneu. Und für die Waage steht nur Gutes drin, glatte vier Sterne für die Karriere! Wenn das mal nichts heisst!"
Ich greife mir die Ausgabe, blättere bis zur Seite mit den Horoskopen gleich nach der Ratgeberkolumne und überfliege mein Horoskop mit mässigem Enthousiasmus. Nach deren Vorhersage ist das wirklich meine Woche. "Mein Glückstag ist sogar der Zwölfte, das ist heute. Wollen wir nur mal hoffen, dass es ausser mir keine Waage an der Schule gibt, dann kriege ich die Rolle auf jeden Fall."
Emily zieht eine Schnute vor meinem Mangel an Begeisterung. "Vielleicht bist du nicht die einzige Waage, die vorspricht, aber dafür die talentierteste, begabteste, schillerndste -"
"Und die unpünktlichste, neurotischste, grössenwahnsinnigste..." unterbreche ich sie düster und verschränke meine Knie auf dem Sitz vor der Brust.
"Ich sorge schon dafür, dass wir rechtzeitig da sind, und wenn ich zehn Ampeln bei Rot nehmen muss", bemerkt sie mit entschlossenem Blick. "Lehn du dich nur zurück, bündle deine Kräfte und hör mit der elenden Schwarzmalerei auf. Wenn du die Rolle nicht kriegst, will ich nicht mehr Emily McCormick heissen. Du bist perfekt dafür."
Ich blicke auf und atme tief durch, um meine angespannten Nerven etwas zu beruhigen. Die Rolle beim Schultheater, für die ich heute vorsprechen werde, ist mir wirklich wie auf den Leib geschneidert, das muss ich zugeben. Ein junges Mädchen, welches sich aufmacht in die grosse Stadt, um den grossen Erfolg am Broadway zu finden. Mit einer Menge Träumen im Gepäck und den Kopf in den Wolken, sodass sie sich im Stück einigen Desillusionen hingeben muss, doch trotzdem mit einem befriedigenden Ende. Also so ziemlich meine eigene Situation, weil ich von der Schauspielerei träume, seitdem ich mit meinem Onkel das Phantom der Oper sehen durfte. Natürlich bin ich damit längst nicht die Einzige, an meiner Schule gibt es mindestens soviele Mädchen, die ins Filmgeschäft wollen wie Brünette. Allerdings wollen die meisten vor allem Ruhm und den Bekanntheitsgrad, während mir das eigentlich schnurz ist. Ich liebe es einfach nur, in eine andere Haut zu schlüpfen, eine Rolle zu spielen, eine Geschichte zu erzählen. Auf der Bühne zu stehen ist mein Nonplusultra und mit der Zeit habe ich tatsächlich sowas wie Erfahrung gesammelt. Emily spricht von meinem Talent, aber ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.
"Willst du deinen Text heute nochmal durchgehen? Ein paar Minuten bleiben uns noch. Ich halte auch die Klappe, wenn du willst."
Ich vergrabe meine Fingernägel in meine Waden, so stark, dass die Sehnen in meinen Händen weiss hervortreten, und bleibe stumm. Kurz vor dem Vorsprechen habe ich immer einen Knoten im Magen und kann den Text nicht noch einmal wiederholen, ohne meine Nervosität noch mehr ansteigen zu lassen. Man muss mir meine Anspannung wohl ansehen, denn Emily plappert schnell weiter, um mich etwas abzulenken.
"Aber mal ganz ehrlich, Vorsprechen morgens um acht... das sind schon beknackte Zeiten. Wieso machen sie das nicht nach der Schule? So verpasst ihr ja Unterricht und all solchen Kram." Emily setzt sich ihre riesige Sonnenbrille mit den verspiegelten Pilotengläsern, die sie aus dem Handschuhfach gekramt hat, auf die Nase.
"Das ist gewollt. Man muss den verpassten Stoff nacharbeiten, deshalb werden nur Leute da sein, die wirklich Interesse haben und nicht nur zugucken und eine Show sehen wollen. Ausserdem soll es eine bestimmte Geheimhaltung garantieren, damit es nachher für die anderen Schüler eine Überraschung wird, wer welche Rolle kriegt oder so", antworte ich und löse mich aus meiner verkrampften Sitzhaltung, im Versuch, meine Glieder etwas zu lockern. Ausserdem erreichen wir dank Emilys gesteigertem Fahrtempo bald schon das Schulgelände und haben sogar noch fünf Minuten Zeit übrig. Ehrlich gesagt verstehe ich das mit dem morgendlichen Vorsprechen auch nicht, aber es macht für mich keinen erheblichen Unterschied. Nervös bin ich ohnehin, bevor ich auf der Bühne stehe, ganz egal, wer und wieviele dabei zusehen werden. Bis ich loslege, dann vergesse ich die Augenpaare um mich herum, die mich mustern und bewerten.
"Blödsinn, echt... die fordern einen ja regelrecht dazu auf, zu spät zu erscheinen. Wer ist schon genau um acht da, jetzt mal ehrlich?", versucht sich Emily an einen Scherz, der mir nur ein mattes Grinsen entlockt. Wir sind wirklich notorische Zuspätkommer.
Sie lenkt den Wagen auf den Parkplatz vor der Schule und sichtet ganz in der Nähe vom Eingang noch eine freie Stelle. "Kein Unfall trotz meines mörderischen Tempos, ein Platz gleich vor dem Gebäude, ein gigantisches Horoskop... das sind alles Omen, Debs! Es  kann gar nichts mehr schieflaufen. Geh da rein und zeig denen, wo der Hammer hängt!" begeistert sie sich, stellt den Motor ab und klopft mir auf den Rücken, wie Footballspieler das vor einem Spiel tun. Ich greife mir meine Tasche vom Rücksitz, steige aus dem Auto und rufe ihr noch ein 'Bis nachher' zu, bevor ich zum Eingang und in das Gebäude hechte.



Samstag, 4. Januar 2014

Wunschträume

Es gibt diese Momente, die kurz vor dem Schlafen. Man liegt bereits in der Dunkelheit im Bett, alles ist still und man wartet bloss noch darauf, dass einen der Schlaf übermannt. Die Gedanken schweifen ab, kehren immer wieder zu den Themen zurück, die man bestenfalls tagsüber erfolgreich verdrängen konnte.

Früher habe ich in diesen Augenblicken immer an meine Zukunft gedachte. Oft habe ich stundenlang nicht geschlafen, weil ich einfach nur damit beschäftigt war, mir mein zukünftiges Leben auszumalen. Dabei waren das nie wirklich unmögliche Kleinmädchenträume, die ohnehin kaum erfüllbar sind. Nein, ich habe mir nicht vorgestellt, wie ich ein Topmodell werde, einen Reitstall leite oder einen Nobelpreis gewinne. Wenn ich mich an diese Träume zurückerinnere, waren es meist alltägliche Situationen. Als Zehn-, Zwölfjährige hatte ich zwar einiges an Fantasie, habe mir die folgenden Jahre aber nicht fantastisch vorgestellt.

Meistens habe ich mich damit begnügt, mich mit 16, 18, 20, 25 oder welchem Alter auch immer vorzustellen. Wie sehe ich aus? Was mache ich beruflich bzw. schulisch? Habe ich einen Freund und wenn ja, wie ist er? Habe ich Freunde gefunden, die mich mögen? Bin ich glücklich?
Im Grunde war es egal, wie die Details waren… das wesentliche war stets identisch. Immer war ich glücklich, zufrieden mit meinem Leben, mit einem Freundeskreis und beruflich gesehen keine Niete. Die Probleme und Schwierigkeiten, die ich mit zwölf noch hatte, sprich Schüchternheit, Unsicherheit und ähnliches waren nicht unbedingt komplett verschwunden, doch in meiner Vorstellung hatte ich gelernt damit umzugehen, damit zu leben, daraus vielleicht sogar eine Qualität zu machen.

Mir meine Zukunft auszumalen hat mich nicht nur beschäftigt, bis ich eingeschlafen bin… sie hat mir immer solch ein gutes Gefühl im Bauch gegeben, wie warmer, flüssiger Honig. Als würde alles einmal gut werden und aus dem kleinen, etwas unbeliebten Mädchen etwas werden, auf das sie stolz sein könnte. Eine Person mit Ecken und Kanten, die trotzdem oder gerade eben ihren Platz in der Welt gefunden hat und die weiss, wer sie ist.

Meine Vorstellungen waren nie unerreichbar - doch wenn ich so darüber nachdenke, habe ich mir zwar vieles vorgestellt, doch dieses Szenario, das Leben, welches ich nun lebe, ist mir nie in den Sinn gekommen. Dabei geht es noch nicht einmal um irgendwelche Krankenhausaufenthalte, Erkrankungen, soziale Entfremdung, Unzulänglichkeit, Selbsthass oder sonst irgendetwas. Das sind alles bloss Puzzlestücke, Fragmente. Vielmehr geht es darum, dass ich mir nie erträumt habe, ich würde einmal… so enden. Nicht etwa als starke Frau, die mit sich im Reinen ist und ihren Platz hat, sondern als verschrecktes, ängstliches Wesen ohne Sinn und Daseinsberechtigung.

Wenn ich jetzt nicht schlafen kann und mich hin und her wälze, versuche, Schlaf zu finden und in die Dunkelheit starre, stelle ich mir meine Zukunft nicht mehr vor. Es ist schwer, sich eine Zukunft vorzustellen, wenn selbst die Gegenwart realitätsfern erscheint. Nein, wenn ich nicht schlafen kann, muss ich jetzt unweigerlich daran denken, was das kleine Mädchen von vor sechs und mehr Jahren denken würde, könnte sie sich selbst jetzt sehen. Wie enttäuscht sie wäre, dass doch kein Grund besteht, auf das Kommende zu hoffen und zu vertrauen, dass es keinen Grund gibt, auf ihre zukünftige Person stolz zu sein.

Samstag, 24. August 2013

leerlauf

wenn nichts mehr sinn macht.
in den leerlauf geschaltet.

Sonntag, 14. Juli 2013

Nicht alle Züge halten an


Obwohl sie eine dicke Daunenjacke trug und die Sonne an diesem Maimorgen bereits schien, war Mara furchtbar kalt. Die Schüler am Bahnhof um sie herum trugen fast alle nur dünne Leinenjacken, einige Mutige waren sogar nur im Shirt unterwegs. Sie scherzten, lachten, beklagten sich darüber, dass der Mathelehrer ihnen so viele Hausaufgaben aufgegeben hatten, planten bereits, im Zug vom Klassenstreber die Lösungen abzuschreiben und warteten ungeduldig darauf, dass dieser endlich eintraf. Mara blickte stumm auf die Gleise vor ihr, auf denen gleich der Zug zum stehen kommen würde. Sie hörte ihre Schulkameraden kaum und achtete nicht darauf, was sie von sich gaben, war fasziniert vom Anblick der Gleise.
So viele Nachmittage hatte sie auf diesem Bahnsteig verbracht und die Züge vorbeirasen sehen, in diesem Höllentempo. Hatte den kalten Luftzug verspürt, sich in den Fenstern der Abteile gespiegelt, die Elektrizität in der Luft förmlich gerochen. So schnell die Züge kamen, waren sie auch wieder verschwunden, viele, ohne in dem kleinen Bahnhof anzuhalten. Sie rasten regelrecht vorbei. Mara starrte ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, und setzte sich dann wieder auf die kleine Bank, um auf den nächsten zu warten. Sie blickte auf die weisse Markierung auf der Bahnsteigkante, die anzeigte, dass man nicht zu nahe an den Rand kommen sollte, damit man nicht in Gefahr geriet. Es wäre so lächerlich einfach, sie zu überschreiten. Langsam ging Mara auf die Linie zu und blieb kurz davor stehen. So lächerlich einfach. Unerträglich langsam, doch bestimmt setzte sie einen Fuss hinter die Linie, dann den anderen, bis sie so dicht vor der Bahnsteigkante war, dass sie beinahe auf die Gleise fiel. Der nächste Zug würde bald kommen. Auf der Anzeigetafel war zu lesen, dass der nächste Zug in zwanzig Minuten eintreffen würde, doch davor würde noch ein anderer vorbeikommen, der nicht anhielte. Mara hatte genug Nachmittage auf der Bank verbacht, um in- und auswendig zu wissen, wann welcher Zug kommen würde. Noch drei Minuten. Nicht mehr ganz so bestimmt wie vorher hob Mara den Kopf, sah sich um, um auszuschliessen, dass ausser ihr noch jemand da war, und stellte zufrieden fest, dass der kleine Bahnhof menschenleer war. Mit einem Satz, von einem plötzlichen Impuls getrieben, sprang sie vom Bahnsteig auf die Gleise. Noch zwei Minuten. Verblüfft von ihrem eigenen plötzlichen Mut, endlich das getan zu haben, das sie sich so lange nur vorgestellt hatte, bückte sie sich zu den Schienen, berührte sie erst mit der Fingerspitze, dann mit der ganzen Hand. Sie waren nicht so kühl, wie sie gedachte hatte, sondern angenehm warm, bereits von den Sonnenstrahlen geheizt. Wie es sich wohl anfühlte, sich auf sie zu legen? Noch eine Minute. Mara wollte es ausprobieren. Sich einfach nur hinlegen und sehen, wie es sich anfühlte. Auf den Rücken. Die Wolken beobachten und das warme Eisen im Nacken und an der Hüfte spüren. Bestimmt fühlte es sich himmlisch an. Als Mara bereits den Entschluss gefasst hatte, sich hinzulegen, blickte sie kurz auf und sah von weitem, wie etwas Kleines sich auf sie zubewegte und immer grösser wurde. Der Zug. Er war wie immer pünktlich. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte Mara, dann richtete sie sich auf, so schnell es ihr möglich war, und eilte hinauf auf den Bahnsteig, bevor sie den gewohnten kühlen Luftzug im Nacken spüren konnte. Dann erst merkte sie, was gerade geschehen war, wie knapp sie den Rädern des Zuges entwischt war. 
Daran dachte Mara, als sie an diesem Morgen im Mai auf die Gleise starrte. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie bei der Erinnerung daran ihre Fäuste in den Jackentaschen so fest geballt hatte, dass ihre Sehnen bereits weiss hervortraten und sie sich ihre Fingernägel in die Haut bohrte. Ihr Mund verzerrte sich beim Gedanken an die Situation zu einer Grimasse. Alle Stimmen um sie herum schienen völlig zu verstummen, alle Hintergrundgeräusche zu verstimmen. Es blieben nur noch Mara, die warmen Gleise und der bald eintreffende Zug übrig. Sie blickte in die Richtung, aus der er kommen würde, und sah nach einigen endlos lange erscheinenden Augenblicken endlich, wie er sich auf den Bahnhof zubewegte. Ohne noch einen Gedanken darüber zu verschwenden, als hätte sie das ewig so geplant, sprang sie förmlich von der Bank, war in zwei Sätzen beim Bahnsteigrand und stieg unter den entsetzten Blicken ihrer fassungslosen Mitschüler auf die Gleise. Alles schien den Atem anzuhalten. Als Mara ihren Kopf auf das Gleis bettete, dachte sie noch, wie seltsam es doch war, dass all die Kälte auf einmal verschwunden zu sein schien. Sie schloss ihre Augen und ein kleines Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, bevor der Zug mit voller Kraft am Bahnhof vorbeifuhr, ohne anzuhalten, und ihrem Leben dadurch ein jähes Ende setzte.

Samstag, 13. Juli 2013

what's in my bag...

Nein, ich habe tatsächlich nichts besseres zu tun... das lenkt zumindest ein wenig ab und sowas gehört doch auf einen Blog, nicht?

Erstmal meine Tasche... ich habe sie, seit ich zwölf bin und brauche sie eigentlich ständig. Sie ist gross genug, hat einen breiten Riemen, der nicht so einschneidet und vor allem ist sie deshalb toll, weil sie an der Unterseite eine Art 'Schuhprofil' hat, sie kippt also nicht um, wenn man sie abstellt.

 

Zum Inhalt... zurzeit ist sie richtig vollgepackt. 


Erstmal drei Bücher. 
Seelen von Stephenie Meyer (ich finde ihre Bücher zwar furchtbar, aber trotzdem lese ich sie... schliesslich will ich wissen, was ich da kritisiere (übrigens schafft sie es auch noch dann eine Dreiecksbeziehung entstehen zu lassen, wenn nur zwei Körper im Spiel sind. Faszinierend, diese Fixierung).
Knoblauch, Kreuz und Weihwasser - Hand buch für Vampirjäger von Scott Bowen
Traummann an der Angel von Mary Janice Davidson
Beim bestern Willen keine anspruchsvolle Lektüre, aber eben das, was man am Bahnhof für fünf Mäuse am Grabbeltisch so findet. Sie werden mich zumindest eine Weile unterhalten, schätze ich, beim Durchblättern sind sie mir auf jeden Fall wie eine akzeptable Zeitvertreib-Lektüre vorgekommen. Alle anderen Bücher, die mir meine Mutter aus der Bibliothek und von zuhause ins Krankenhaus mitgebracht hat, habe ich jetzt durch und auch die, die auf der Station für die Patienten bereitstehen sind   ausgelesen. Wählerisch bin ich wirklich nicht mehr.


Darauf folgt ein ziemlicher Kabelsalat. 
Mein Handy mitsamt Aufladegerät, der mp3-Player (bei dem aus einem mir nicht erklärbarem Grund nur das Radio funktioniert, weshalb ich mir in Dauerschleife Get Lucky anhören muss) mit Aufladegerät und mein iPod (nicht auf dem Bild, da ich damit das Foto geschossen habe) mit (leicht angeknackstem) Aufladekabel sowie mein alter Nintendo DS mit Aufladegerät, den ich aus den Tiefen meines Zimmers herausgekramt habe.


Puh, nun zum Kleinkram, der in meiner Tasche herumschwirrt...
Meine Brieftasche mit etwas Geld, meinem Generalabo für den Zug, meine Identitäts-, Bibliotheks- und Organspendekarte (ich gestatte im Falle meines Todes die Entnahme jeglicher Organe, Gewebe und Zellen - ob sie die wollen, ist eine andere Frage), diverse Visitenkarten, halb ausgefüllte Stempelkarten (zehntes Sandwich umsonst).
2 Teebeutel von Kenwick mit Kirscharoma aus Holland, die ich von meiner Tante bekommen habe. 
Meine Schlüssel (Hausschlüssel, der vom Briefkasten und der von meinem Casier in der Schule) mitsamt merkwürdigen Schlüsselanhänger, den meine Mutter einmal bekommen hat.
Zwei angebrochene Kaugummipackungen (Wassermelone).
Ein USB-Stick, bei dem der Deckel fehlt.
Ein kaputter (aber noch funktionstüchtiger) Füller und ein Tintenkiller. 
Meine Medikamente für heute und morgen.
Eine Zahnbürste, die schon ewig in dieser Tasche ist, aber keine Zahnpasta.
Ein Concealer/Roll-On von Garnier, den mir meine Mutter einmal gekauft hat, ich aber nicht brauche, weil ich mir einbilde, dass man meine Augenringe damit nur noch stärker sieht.
Ein 'Schneeflockenlicht' von meiner Grossmutter.
Eine Geschenkgutscheinkarte über 20 Franken bei exlibris, einem Laden, der Bücher, DVDs, CDs etc. verkauft und den ich wahrscheinlich bald brauchen sollte, bevor er verfällt.
Einige Münzen, die ich in der Eile nicht in meine Brieftasche gesteckt habe.
Zwei gelbe Post-It-Blöcke mit einer Telefonnummer drauf.
Ein Nasenpflaster, das schon ganz klebrig ist.
Meine Sonnenbrille, die ich nie anziehe, weil ich keine Kontaktlinsen mehr trage und ohne Brille kaum etwas erkenne.
Die Terminkarte von der Physiotherapie (allerdings eine ältere, auf der noch Termine vom Mai stehen).
Die Quittung für zwei Eintritte im Museum im Januar.
Einige leere Tintenpatronen, die schon seit einer Weile da herumschwirren.
Drei Scoubidous, die weitgehend fertig sind.
Zitronensaft... weiss der Geier, woher.

Tja. Das war wirklich wahnsinnig aufschlussreich und spannend und hat mich gute dreissig Minuten lang beschäftigt.

Samstag, 25. Mai 2013

dreieinhalb Monate

Jetzt bin ich seit dreieinhalb Monaten in der pädopsychiatrischen Abteilung des Krankenhauses meiner Stadt. Mit 17 bin ich eine der Ältesten da - die meisten anderen sind um die fünfzehn, einige auch jünger. Sie bleiben meistens nicht lange. Einige Wochen, vielleicht einen Monat, wenn es denn hochkommt. Sie kommen, gehen und hinterlassen nur für kurze Zeit eine Leere, bis eine andere Person ihren Platz einnimmt, wenn sie wieder in ihr Leben zurückkehren. Ich bleibe.
Die Tage sind furchtbar lang und gleichzeitig wahnsinnig kurz. Sie ziehen sich wie Kaugummi, weil ich kaum etwas anderes tue als auf meinem Bett zu liegen und an die Decke zu starren, zu zittern und die Verzweiflung aufsteigen zu fühlen. Doch dann wird es draussen wieder dunkel und noch ein Tag ist vorbei. Noch einer, den ich im Krankenhaus verbringe, ich auf Leerlauf geschalte bin, während draussen das Leben weitergeht. Anfangs wollte ich noch unbedingt so schnell wie möglich herauskommen, aber jetzt kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie es weitergehen soll, wenn ich einmal nicht mehr dort bin. Eigentlich denke ich nicht, dass es überhaupt weitergehen kann - bevor ich abends einschlafe, hoffe ich stets, dass ich morgens nicht mehr aufwache. Das würde alles so viel leichter machen. Ich bin es schlicht leid zu kämpfen.

Samstag, 26. Januar 2013

Heute Abend habe ich mich auf die Waage gestellt und war unter 36 Kilo. Keine Ahnung, ob die Zahl wirklich stimmt. Sie macht mir Angst irgendwie, weil ich nie unter 36 fallen wollte. Allerdings wollte ich auch nie unter 37 fallen und auch nicht unter 38. Ich weiss, dass ich mehr essen muss, überhaupt essen muss, und im Grunde will ich das auch, aber es ist so viel einfacher, es einfach... nicht zu tun. Die Essstörung ist etwas, in das ich mich wickeln kann, bis zu einem gewissen Grad geborgen fühle. Und dann wiederum ist es die Hölle, weil es verbunden ist mit körperlichem Schmerz, mit so viel Trauer und mit Frustration. Mir kommt es so vor, als würde mein Gehirn laut schreien und mit tausend unterschiedlichen Stimmen gegen sich selbst ankämpfen, mir alles mögliche zurufen.