Obwohl sie eine
dicke Daunenjacke trug und die Sonne an diesem Maimorgen bereits schien, war
Mara furchtbar kalt. Die Schüler am Bahnhof um sie herum trugen fast alle nur
dünne Leinenjacken, einige Mutige waren sogar nur im Shirt unterwegs. Sie
scherzten, lachten, beklagten sich darüber, dass der Mathelehrer ihnen so viele
Hausaufgaben aufgegeben hatten, planten bereits, im Zug vom Klassenstreber die
Lösungen abzuschreiben und warteten ungeduldig darauf, dass dieser endlich eintraf.
Mara blickte stumm auf die Gleise vor ihr, auf denen gleich der Zug zum stehen
kommen würde. Sie hörte ihre Schulkameraden kaum und achtete nicht darauf, was
sie von sich gaben, war fasziniert vom Anblick der Gleise.
So viele Nachmittage
hatte sie auf diesem Bahnsteig verbracht und die Züge vorbeirasen sehen, in
diesem Höllentempo. Hatte den kalten Luftzug verspürt, sich in den Fenstern der
Abteile gespiegelt, die Elektrizität in der Luft förmlich gerochen. So schnell die
Züge kamen, waren sie auch wieder verschwunden, viele, ohne in dem kleinen
Bahnhof anzuhalten. Sie rasten regelrecht vorbei. Mara starrte ihnen nach, bis
sie nicht mehr zu sehen waren, und setzte sich dann wieder auf die kleine Bank,
um auf den nächsten zu warten. Sie blickte auf die weisse Markierung auf der
Bahnsteigkante, die anzeigte, dass man nicht zu nahe an den Rand kommen sollte,
damit man nicht in Gefahr geriet. Es wäre so lächerlich einfach, sie zu
überschreiten. Langsam ging Mara auf die Linie zu und blieb kurz davor stehen.
So lächerlich einfach. Unerträglich langsam, doch bestimmt setzte sie einen
Fuss hinter die Linie, dann den anderen, bis sie so dicht vor der
Bahnsteigkante war, dass sie beinahe auf die Gleise fiel. Der nächste Zug würde
bald kommen. Auf der Anzeigetafel war zu lesen, dass der nächste Zug in zwanzig
Minuten eintreffen würde, doch davor würde noch ein anderer vorbeikommen, der
nicht anhielte. Mara hatte genug Nachmittage auf der Bank verbacht, um in- und
auswendig zu wissen, wann welcher Zug kommen würde. Noch drei Minuten. Nicht
mehr ganz so bestimmt wie vorher hob Mara den Kopf, sah sich um, um
auszuschliessen, dass ausser ihr noch jemand da war, und stellte zufrieden
fest, dass der kleine Bahnhof menschenleer war. Mit einem Satz, von einem
plötzlichen Impuls getrieben, sprang sie vom Bahnsteig auf die Gleise. Noch
zwei Minuten. Verblüfft von ihrem eigenen plötzlichen Mut, endlich das getan zu
haben, das sie sich so lange nur vorgestellt hatte, bückte sie sich zu den Schienen,
berührte sie erst mit der Fingerspitze, dann mit der ganzen Hand. Sie waren
nicht so kühl, wie sie gedachte hatte, sondern angenehm warm, bereits von den
Sonnenstrahlen geheizt. Wie es sich wohl anfühlte, sich auf sie zu legen? Noch
eine Minute. Mara wollte es ausprobieren. Sich einfach nur hinlegen und sehen,
wie es sich anfühlte. Auf den Rücken. Die Wolken beobachten und das warme Eisen
im Nacken und an der Hüfte spüren. Bestimmt fühlte es sich himmlisch an. Als
Mara bereits den Entschluss gefasst hatte, sich hinzulegen, blickte sie kurz
auf und sah von weitem, wie etwas Kleines sich auf sie zubewegte und immer
grösser wurde. Der Zug. Er war wie immer pünktlich. Für den Bruchteil einer
Sekunde erstarrte Mara, dann richtete sie sich auf, so schnell es ihr möglich
war, und eilte hinauf auf den Bahnsteig, bevor sie den gewohnten kühlen Luftzug
im Nacken spüren konnte. Dann erst merkte sie, was gerade geschehen war, wie
knapp sie den Rädern des Zuges entwischt war.
Daran
dachte Mara, als sie an diesem Morgen im Mai auf die Gleise starrte. Sie hatte
nicht gemerkt, dass sie bei der Erinnerung daran ihre Fäuste in den
Jackentaschen so fest geballt hatte, dass ihre Sehnen bereits weiss
hervortraten und sie sich ihre Fingernägel in die Haut bohrte. Ihr Mund verzerrte
sich beim Gedanken an die Situation zu einer Grimasse. Alle Stimmen um sie
herum schienen völlig zu verstummen, alle Hintergrundgeräusche zu verstimmen.
Es blieben nur noch Mara, die warmen Gleise und der bald eintreffende Zug
übrig. Sie blickte in die Richtung, aus der er kommen würde, und sah nach
einigen endlos lange erscheinenden Augenblicken endlich, wie er sich auf den
Bahnhof zubewegte. Ohne noch einen Gedanken darüber zu verschwenden, als hätte
sie das ewig so geplant, sprang sie förmlich von der Bank, war in zwei Sätzen
beim Bahnsteigrand und stieg unter den entsetzten Blicken ihrer fassungslosen
Mitschüler auf die Gleise. Alles schien den Atem anzuhalten. Als Mara ihren
Kopf auf das Gleis bettete, dachte sie noch, wie seltsam es doch war, dass all
die Kälte auf einmal verschwunden zu sein schien. Sie schloss ihre Augen und
ein kleines Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, bevor der Zug mit
voller Kraft am Bahnhof vorbeifuhr, ohne anzuhalten, und ihrem Leben dadurch
ein jähes Ende setzte.
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